Das Haus des Qi Gong hat eine unscheinbare Fassade, hinter der sich Wunder verbergen. Um sie zu entdecken, heißt es den von jahrtausendelangem Gebrauch polierten Drücker der schlichten und massiven Tür in die Hand zu nehmen und einzutreten. Einmal drin, dauert es seine Zeit, bis man sich in dem labyrinthischen Gebäude einmal grob orientiert hat, in dem vermutlich nicht einmal die größten Meisterinnen und Meister bis in den letzten Raum vorgedrungen sind.
Sich darin nach und nach im Haus zurecht zu finden, erfordert nichts weiter als Übung. Idealerweise täglich, wenigstens ein paar Minuten: „Ein Tag geübt, ist ein Tag geübt. Ein Tag nicht geübt, ist drei Tage weggeworfen.“
Zu den Wundern des Qi Gong gehört, dass es Qi Gong „eigentlich“ nicht gibt. Der Begriff wurde erst in den 1950er Jahren in China als Sammelbegriff und landesweites gemeinsames Dach für eine Vielzahl an lange überlieferten Stilen, Linien und Übungstraditionen eingeführt. So ist Qi Gong ist die hochbetagte und ewig junge Mutter, Tochter, Cousine bzw. Gefährtin – je nachdem – der chinesischen Lebens-, Heil- und Kampfkunst; des Daoismus, des Buddhismus und auch des Konfuzianismus; der Meditation und einer überkonfessionellen Spiritualität.
Das eine Qi Gong gibt es nicht. Statt dessen gibt es bewegtes Qi Gong in körperlicher Bewegung, stilles Qi Gong in innerer Bewegung, medizinisch-therapeutisches Qi Gong, Qi Gong zur Waschung von Mark und Knochen und Eisenhemd-Qi Gong bzw hartes Qi Gong unter anderem zur Wandlung von Muskeln und Sehnen. Es gibt Qi Gong im Gehen, im Stehen, im Sitzen und im Liegen. Qi Gong lässt sich als Meditation genauso üben wie als Kraft- und Ausdauertraining und alles mögliche Andere zwischen diesen Polen. Auch als Kombination von Beidem.
Allen Formen und Stilen gemeinsam ist das Ansinnen, Harmonie zu schaffen: Harmonie zwischen uns Menschen mit der Erde unter und dem Himmel über uns; Harmonie in unseren Körpern mit seinen verschiedenen Funktionsbereichen (wie sie die ehrwürdige chinesische Medizin ganzheitlich und durchdringend versteht); und Harmonie zwischen Körper, Geist und Seele.
All das geschieht, indem wir einfach üben und Qi – die stoffliche wie auch nicht-stoffliche Kraft, die alle Lebensprozesse antreibt – zum Fließen bringen. In einem Prozess der Übung namens Gong, den James MacRitchie in seinem sehr lesenswerten „Qi Gong“-Buch in bemerkenwerte Worte gefasst hat:
„‚Gong‘ ist ein Begriff, für den wir im Westen kein Äquivalent in unserem gewöhnlichen Energierahmen haben, der aber eine Grundlage der chinesischen Kultur bildet. ‚Gong‘ wird am besten durch ‚Kultivierung‘ wiedergegeben. In den letzten (…) Jahren haben wir uns an Begriffe wie ‚Persönliche Entwicklung‘, ‚Persönliches Wachstum‘ und ‚Selbsterfahrung‘ gewöhnt (…). Aber ‚Kultivierung‘ bedeutet noch etwas anderes. Dieser Begriff liegt nicht auf der Wellenlänge der normalen westlichen Haltung dem Leben gegenüber.
Er hat mit Eile nichts zu tun, auch nicht mit Rentabilität oder Mode. Er glänzt nicht. Er kennzeichnet etwas, das langsam und stetig, allmählich, konstant und bescheiden ist. Er erfordert eine andere Geisteshaltung als die, an die wir gewöhnt sind. Er braucht Zeit. Er beinhaltet, dass man etwas Langfristiges auf engagierte und hingebungsvolle Art und Weise vollbringt.
Eine der besten Beschreibungen ist, dass Kultivierung der eigenen Energie so etwas ist, wie ein Stück Papier auf das andere zu legen – nach einer gewissen Zeit werden Sie einen Turm von der Höhe und Kraft eines Wolkenkratzers haben. Das ist es, was Qi-Gong-Übende machen: Sie kultivieren ihre Energie und damit sich selbst.“
Viele Qi Gong-Übungen sind einfach zu lernen, aber schwer zu meistern. Beständig zu üben, heißt, sich Schritt für Schritt tiefer in das Haus des Qi Gong zu bewegen – und vielleicht, irgendwann einmal, Gongfu zu erlangen: Meisterschaft. Die aber sollte nicht unser vordergründiges Motiv sein. Denn statt dass es vordergründig darum ginge, „was dabei herauskommt“ ist in den alten Worten des deutschen Zen-Lehrers Karlfried Dürckheim doch viel wichtiger, „was beim Üben in den Menschen hineinkommt.“
Das kann man vorzüglich alleine tun. Der Reiz des gemeinsamen Übens besteht jedoch darin, dass sich die Energie jedes einzelnen Übenden mit der Energie aller anderen verbindet und somit potenziert. Übt eine Gruppe ruhig und konzentriert, kann ein großes und starkes Energiefeld mit sanfter Sogwirkung entstehen, das ein Einzelner kaum zustande brächte. Dieses Energiefeld zu schaffen, ist über das Weitergeben der Übungen hinaus einer der Daseinszwecke der wolkenhände Wanderschule für Qi Gong.
„Jeder Tag ein guter Tag!“